Wegbereiter des modernen Satanismus: Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche (1844-1900), „ein Realist“, war ein deutscher Philosoph und u. a. Wegbereiter der Existentialisten. Seine Ideen vom Übermenschen und sein „Wille zur Macht“, ebenso wie seine Ideen, die die natürliche Ordnung von „Herren“ und „Sklaven“ betreffen, werden von modernen, philosophischen Satanisten sehr bewundert.

„Gott ist tot!“ – und Nietzsche unsterblich

Als die Menschen Gott zum höchsten Wert herabwürdigten, schlug Friedrich Nietzsche Alarm. Im Christentum seiner Zeit sah er eine sinnentleerte, lebensfeindliche Religion. Sein Ausspruch vom toten Gott ist längst Kult geworden und hat ein Eigenleben entwickelt.

Friedrich Nietzsche: „Mit dem Christentum werde ich nicht fertig.“

 „Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken: Wohin ist Gott? Rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“
Mit diesen Worten beginnt Friedrich Nietzsches berühmtes Textstück aus der „Fröhlichen Wissenschaft“. Protagonist ist der „tolle Mensch“, der Wahn­sinnige und Seher, der vom Volk nicht verstanden wird. Denn er verkündet Unerhörtes:
„Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet.“

Der Autor Friedrich Nietzsche schlüpft in die Rolle des „tollen Menschen“, um den Lesern etwas mitzuteilen, das offenbar ihren geistigen Horizont übersteigt. Die Menschen tappten noch im Dunklen, weshalb der tolle Mensch „am hellen Vormittage eine Laterne anzündete“. Deswegen ist der Wahnsinnige ein Seher, ein Prophet, ein Aufklärer:
„Ich komme zu früh, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.“
Wie ist es möglich, dass der Mensch Gott erschlagen konnte? Und wie kann der Mensch als Sterblicher überhaupt Gott als unsterbliches Wesen umbringen? Nietzsches These scheint paradox zu sein, der Sachverhalt ist offensichtlich mit logischen Argumenten nicht zu klären.

„Mit dem Christentum werde ich nicht fertig“

Friedrich Nietzsche, Sohn eines lutherischen Pfarrers aus dem sächsischen Röcken, stritt zeit seines Lebens mit Kirche und Christentum. Er war weder Atheist noch gläubiger Christ, und doch setzte er sich in sämtlichen seiner Schriften mit religiösen Themen auseinander – mit der Götterwelt der alten Griechen, mit Katholizismus und Protestantismus, mit Buddhismus, Hinduismus und Islam. Nietzsche war auch kein Theologe, obwohl er in Bonn kurze Zeit protestantische Theologie studierte. Vielmehr wurde er bereits mit 25 Jahren zum außerordentlichen Professor für Altphilologie in Basel berufen. Aber Nietzsche stand in ständigem Austausch mit anderen Gelehrten, beispielsweise mit seinen Basler Kollegen, dem Religionswissenschaftler Johann Jacob Bachofen und dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt.

In Nietzsches nachgelassenen Notizen findet sich die beiläufige Bemerkung: „Mit dem Christentum werde ich nicht fertig.“
Friedrich Nietzsches grundlegendes Thema, das er immer wieder in die unterschiedlichsten Werke seiner kurzen, 18-jährigen Schaffenszeit einfließen ließ, ist der Wandel unserer Gottesvorstellungen: Der Wandel vom sinnlich erfahrbaren Gott zu einem Wert, den wir als Gott verehren; der Übergang von einer Religion des Lebens zu einer der décadence. Das ist der zentrale Nerv seiner Argumentation: Der Kampf gegen die nihilistische, gegen die verneinende Kultur.

Bissige Kommentare gegen die Kirche

Der Altphilologe Friedrich Nietzsche bewunderte die hellenische Welt, besonders das Gottesverständnis der alten Griechen. Bereits seine berühmte Frühschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ zeichnet mit großer Anteilnahme die apollinische und dionysische Götterwelt der Griechen nach. Aus dieser Zeit, den frühen 1870-er Jahren, stammt auch die Abhandlung „Die Geburt des tragischen Gedankens“. Kurz nach Antritt seiner Basler Professur schrieb der 26-Jährige:

„Nicht um sich vom Leben abzuwenden, schaute das Auge des Hellenen gläubig zu ihnen empor. Aus ihnen spricht eine Religion des Lebens, nicht der Pflicht oder der Askese oder der Geistigkeit. Alle diese Gestalten atmen den Triumph des Daseins, ein üppiges Lebensgefühl begleitet ihren Kultus.“

Als junger Professor für Griechisch und Latein widmete sich Friedrich Nietzsche dem kultischen Leben der Griechen. An diese Beschäftigung mit der hellenischen Welt sollte denken, wer Nietzsches leidenschaftliche Kritik des nihilistischen Zeitalters, der décadence-Kultur liest. Geschrieben in bissigen Aphorismen und Kommentaren, gerichtet gegen Kirche, Monarchie und Parteien. Die Religion der Zeit, verstanden als eine Form kulturellen Verfalls, lässt sich bereits in einem nachgelassenen Fragment von 1873 nachlesen:

„Ich bemerke eine Erschöpfung, man ist an den bedeutenden Symbolen ermüdet. Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harmlosesten und reflektiertesten, sind durchprobiert, es ist Zeit zur Nachahmung oder zu etwas Anderem.“

Erschöpfung, décadence, Nihilismus – das sind die von Nietzsche aufgedeckten Symptome, von denen auch die Religion befallen wurde. Was das „Andere“ sein könnte, wird Nietzsche erst in seinen späteren Schriften – vornehmlich im Antichrist – ausführen. Zunächst zeigt er sich als Zeitdiagnostiker, der sich fragt: Wie kam es, dass sinnliche Religion und Kult, kurz: „die Religion des Lebens“ zusehends abgewertet wurden?

Tanzen ist unmöglich

Der Philosoph, der den Kult in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ fast wollüstig beschrieb, führt den tief greifenden Wandel auf das technisch-wissenschaftliche Zeitalter, auf die rationalistische Geisteshaltung zurück. Zudem habe sich das Bewusstsein des schlechten Gewissens, von Schuld und Sühne zunehmend in den Vordergrund gedrängt. Aus der Welt sei der Zauber entwichen, etabliert habe sich stattdessen eine hierarchische Ordnung der Werte. Eine Ordnung, in der – wie die Scholastiker einst sagten – Gott der höchste Wert ist. Vor diesem höchsten Wert, bemerkte Nietzsche einmal, sei es ihm unmöglich zu tanzen.

In Wirklichkeit ist der „tolle Mensch“ ein Weiser. Wenn er ausruft: „Gott ist tot! Wir haben ihn getötet!“ dann ist das zugleich die zivilisationskritische Diagnose des Basler Professors. Der fügt erklärend hinzu: Die Menschen holten zum letzten Schlag gegen Gott aus, als sie Gott zum höchsten Wert herabwürdigten. Als Resultat der Entwicklung erkennt Nietzsche: Das Christentum als sinnenleere, lebensfeindliche Religion. In seinen letzten produktiven Jahren, vor der schweren Erkrankung, wird die Kritik zusehends schärfer. Das war die Zeit zwischen der frühzeitigen Emeritierung 1879 und dem geistigen Zusammenbruch im Januar 1890 in Turin. Den 1888 geschriebenen „Antichrist. Fluch auf das Christentum“ konnte der Philosoph zu Lebzeiten nicht mehr publizieren. Darin schreibt er:

„Das ist es nicht, was uns abscheidet, dass wir keinen Gott wieder finden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur, – sondern dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als ‚göttlich‘, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht als Irrtum, sondern als Verbrechen am Leben. Wir leugnen Gott als Gott. Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen.“

Heidegger und Bloch auf Nietzsches Spuren

„Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß“, ist also endgültig verschwunden. Den Bereich des Heiligen, den die Sterblichen mit den Göttern teilten, verklärte noch der schwäbische Dichter Friedrich Hölderlin, der kurz vor Nietzsches Geburt verstarb. Friedrich Nietzsche erkannte um 1870 nur noch die „Weltnacht“, in der Gott bereits entschwunden war. Beide – der Dichter und der Denker – hatten schließlich großen Einfluß auf einen Philosophen gehabt, der im Jahr der Niederschrift des Antichristen unweit von Nietzsches Wirkungsstätte Basel geboren wurde – Martin Heidegger. Der schwäbische Philosoph, der Ende der dreißiger Jahre in Freiburg einen Vorlesungszyklus über Nietzsche hielt, schrieb einmal:

„Vor diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.“

Das könnte ein Zitat Nietzsches sein, denn der Autor des Antichristen beschrieb die dionysischen Rauschszenen in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ mit ganz ähnlichen Worten. Dagegen empfand er die Kirche als blasphemisch, weil sie Gott nicht achtet, sondern verachtet. Martin Heidegger verlangte eine Neubesinnung auf Gott, eine Preisgabe unserer Vor-Stellungen von Gott. Einzig ein neues Denken könne uns „vielleicht näher zum göttlichen Gott“ hinführen.

Auch der Tübinger Philosoph Ernst Bloch, ein Zeitgenosse Heideggers, wandelte in der religionskritischen Spur Friedrich Nietzsches. Schon früh widmete er sich den häretischen und aufmüpfigen Gestalten innerhalb der Kirche – zum Beispiel dem Priester und Revolutionär Thomas Müntzer. Der Marxist Bloch deutete das Neue Testament politisch, indem er seinen humanistischen Kern freilegte. Das zeigt sich in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“:

„Die Wahrheit des Gottesideals ist einzig die Utopie des Reichs, zu dieser ist gerade die Voraussetzung, dass kein Gott in der Höhe bleibt, indem ohnehin keiner dort ist oder jemals war.“

Kein Gestern und kein Übermorgen

Ernst Bloch zitiert als Beleg für seine humanistische Deutung des Neuen Testaments Jesu Worte aus dem Lukas-Evangelium:
„Das Reich Gottes ist mitten unter euch (Lukas 17,12).“
Bloch sprach vom „Atheismus im Christentum“ und Nietzsche vom „Antichristen“, doch beide Buchtitel zielten keineswegs auf eine bloße Abkehr vom Christentum. Die beiden Philosophen suchten das „Menschliche, Allzu menschliche“ in der Religion. Nietzsche hat im Grunde niemals den mythischen Urgrund der Religion verlassen, nämlich das Heilige als das Menschen und Götter Einigende. Seiner scharfen Zivilisationsdiagnose stellte er das von Jesus gelebte Christentum entgegen:

„Das Evangelium war doch gerade das Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit dieses ‚Reichs’ gewesen."-“ ‚Das Reich Gottes‘ ist nichts, das man erwartet: Es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in ‚tausend Jahren‘ – es ist eine Erfahrung an einem Herzen: Es ist überall da.“

Friedrich Nietzsche erteilt also den Vertröstungen auf ein besseres Leben im Jenseits eine klare Absage. Ebenso dem Glauben an ein übersinnliches Reich: In vorbereitenden Notizen zum Antichrist schreibt er:

„Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt, im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod, in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zorns, der Verachtung.“

Messianischer Erlösungsanspruch

In „Das Prinzip Hoffnung“ erläutert Ernst Bloch die zweifache Ausrichtung des christlichen Atheismus: Jesus als Menschensohn und als messianischer Heilsbringer auf Erden. In seinen griechischen Namen „Messias“ und „Christos“ – der von Menschenhand Gesalbte – erkannte Ernst Bloch das eigentliche Selbstverständnis Jesu’. Der Name weist ja voraus auf die berühmte Szene in Bethanien, als Maria Jesus – kurz vor dem Kreuzestod – mit dem kostbaren Nardenöl einrieb. Aus dieser Perspektive versteht Bloch das Christentum als Hoffnungsappell für den nach Erlösung dürstenden Menschen:

„Die christliche Hoffnung war, dass alles erlöster Mensch sei. Und keine anthropologische Kritik der Religion raubt die Hoffnung, auf die das Christentum aufgetragen ist. Sie bringt die Religionsinhalte auf den menschlichen Wunsch zurück.“

Blochs humanistische Auslegung des Neuen Testaments geht unmittelbar auf Nietzsche zurück, der bis in die Weimarer Republik hinein einen kaum zu unterschätzenden Einfluß auf Intellektuelle und Künstler, auf Linke und Rechte hatte. Und der – nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Theologie zu undogmatischen Interpretationen biblischer Quellen anregte. Nietzsches Umdeutung des „Erlösers“ wird besonders in der 1887 geschriebenen Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“ deutlich. Der messianische Erlösungsanspruch geht hier unmittelbar vom Gottessohn auf den Menschensohn über. Auf den Menschensohn, der bei Nietzsche einen anderen Namen erhält:

„Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei, während sie nur seine Versenkung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe. Dieser Mensch der Zukunft, der uns erlösen wird vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der Erde ihr Ziel und dem Menschen die Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen.“

„Dieser heilige Anarchist“

1921 porträtierte Ernst Bloch den Kirchen- und Sozialrevolutionär Thomas Müntzer: Der Theologe und Antipode Luthers rebellierte nicht nur gegen das Papsttum, sondern auch gegen die ständisch geprägte Gesellschaft während der Bauernkriege. Müntzer kämpfte gegen die Hierarchien in Kloster und Kirche, ebenso gegen die Leibeigenschaft der Bauern in der Feudalgesellschaft. Der mittelalterliche Priester, der 1525 verhaftet, gefoltert und öffentlich hingerichtet wurde, könnte sich das Leben Jesu’ zum Vorbild genommen haben. Das legt Nietzsches Kommentar nahe:

„Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßenen und ‚Sünder’ zum Widerspruch gegen den ‚herrschenden Stand‘, gegen die Kaste, das Privilegium, die Ordnung, die Formel aufrief, war ein politischer Verbrecher.“

Friedrich Nietzsche hält am Glauben fest, trotz aller rationaler Gegenargumente, die er immer wieder selbst vorbrachte. Damit zeigte er sich einig mit dem Dänen Sören Kierkegaard, der sich mit der „Schwierigkeit zu glauben“ abmühte. An dem Glauben wollte auch der protestantische Philosoph aus Kopenhagen festhalten, obwohl er ihm angesichts des wissen­schaft­sgläubigen Zeitalters als absurd vorkam. Für Nietzsche war die „Schwierigkeit zu glauben“ – übereinstimmend mit dem dänischen Kollegen – etwas sehr existentielles. Denn es kam beiden darauf an, einen sehr persönlichen Weg zum Glauben zu finden, der sich nicht um katechistische Lehrsätze schert:

„Die ‚gute Botschaft’ ist eben, dass es keine Gegensätze mehr gibt; das Himmelreich gehört den Kindern; der Glaube, der hier laut wird, ist kein erkämpfter Glaube, – er ist da, er ist von Anfang an, er ist gleichsam eine ins geistige zurückgetretene Kindlichkeit. Ein solcher Glaube zürnt nicht, tadelt nicht, wehrt sich nicht; er bringt nicht ‚das Schwert‘, – er ahnt gar nicht, inwiefern er einmal trennen könnte. Er beweist sich nicht, er selbst ist jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein ‚Reich Gottes‘. Dieser Glaube formuliert sich auch nicht – er lebt, er wehrt sich gegen Formeln.“

Sinnlichkeit des Islam

Die Befreiung von der knöchernen Formelwelt christlicher Dogmatik gehörte schon zum Gemeinplatz der Frühromantiker um Novalis und Friedrich Schlegel. Deswegen ihre beständige Suche nach einer neuen, sinnlichen Religion – wie sie im „Systemprogramm“ des deutschen Idealismus gefordert wurde.

Der radikale Aufklärer Friedrich Nietzsche ist im 19. Jahrhundert der wirkungsmächtigste Denker eines neuen Christentums, einer säkularen Religion. Sie geht auf Jean-Jacques Rousseaus ‚Religion civile‘ zurück, die er bereits 1758 in seinem Gesellschaftsvertrag formulierte. Rousseau verstand sie als Fundament und Bindemittel, durch die sich jeder als Mitglied einer sozialen Gemeinschaft erfährt.
Die säkulare Religion nahm im 20. Jahrhundert verschiedene Formen an: Spiritistische Menschheitsbeglückung, atheistische Gegenreligion, kommunistisches Heilsversprechen einer klassenlosen Gesellschaft. Durchgespielt wurden friedliche und gewaltsame, messianische und apokalyptische Szenarien.

Nietzscheanische Religion bedeutete zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Kampf gegen die etablierte kirchliche Ordnung, Suche nach den Wurzeln des Christentums, nach dem Leben der ersten christlichen Gruppen. Kurz und gut: Die erstarrte Religion soll neu belebt werden. Es trifft sicher zu, dass viele – wie Peter Sloterdijk im Buch „Gottes Eifer“ nahe legte – die sinnliche Religion im Eifertum des Islam suchen. Aber der führt im Gegenzug allzu viele kodifizierte Verhaltensweisen ein – von der Verschleierung bis zum Ramadan. Weshalb dieser jüngste Monotheismus sofort wieder in eine Zwangsjacke gesteckt wurde.


Es hat den Anschein, als ob gewisse islamische Werte auf westliche Bürger eine große Anziehungskraft besitzen – das Gemeinschaftsgefühl unter den Muslimen, die identifikationsstiftende Kleidung, die Ausrichtung sämtlicher Lebensbereiche nach den Regeln des Korans. Zweifellos haben die Muslime niemals die Geisel des Nihilismus und des religiösen Zweifels gespürt. Darin liegt vielleicht die größte Faszination für die Sinnsuchenden aus dem Abendland.

Allmacht war gestern

Der große Zweifler Friedrich Nietzsche war kein profunder Kenner des Islam. Aber eines ist klar: Der Basler Philosoph wollte niemals zurück zu einem naiven Einverständnis mit Gott. Seine Position ist die einer aufgeklärten Religion. Deswegen kann es für ihn auch keinen allmächtigen, allwissenden Allah geben. Keinen Gott, der all das verkörpert, woran es dem schwachen Menschen gebricht.
Die Überwindung derart kindlicher Projektionen hat ja der „tolle Mensch“ vorausgesagt. Denn der verkündete, dass wir einem „ungeheuren Ereignis“ beiwohnen – dem Tod Gottes. Seither stehen wir – wie Nietzsche schreibt – „an der Schwelle“ zu einer neuen Religion, einer neuen Lebensweise. Die „Fröhliche Wissenschaft“ bereitet die Leser auf das neue Ereignis vor:

„Das größte neuere Ereignis, dass Gott tot ist, beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott tot‘ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt, unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es niemals ein so ‚offenes Meer‘.“



Friedrich Nietzsche
Existentialismus vs Idealismus - Nietzsche gegen Platon
Platon und Nietzsche, Un-Zeitgenossen im Gespräch
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Sebastian Kaufmann zu Nietzsches "Antichrist" (Nietzsche-Ausstellung Historisches Museum Basel)
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Friedrich Nietzsche – Wikipedia


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